„Ich bin überzeugt: Wenn wir erst das Angebot schaffen, dann ist auch die Nachfrage da.“ Wirt-schaftskammer-Präsident Harald Mahrer im Gespräch mit KOMMUNAL-Chefredakteur Hans Braun.
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Wirtschaft

„Wir müssen bei der Kinderbetreuung in die Gänge kommen“

Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer fordert einen umfassenden Ausbau der Kinderbetreuung. Er sieht darin nicht nur einen Schlüssel zur Arbeitsplatzschaffung in Zeiten des Arbeitskräftemangels, sondern auch einen Weg zu Chancengerechtigkeit und einer besseren Zukunft für Kinder und Eltern.

Sie fordern den Ausbau der Kinderbetreuung und haben dazu eine Agenda Kinderbildung & Kinderbetreuung präsentiert. Warum ist das der Wirtschaft ein so großes Anliegen?

Harald Mahrer: Eine flächendeckende und hochwertige Kinderbetreuung ist der Schlüssel zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie und eine bessere Vereinbarkeit hätte einen enormen Arbeitsplatzeffekt. Gerade in Zeiten des Arbeitskräftemangels ist es dringend notwendig, Eltern die Möglichkeit zu geben, Wochenstunden aufzustocken. Laut einer AMS-Erhebung geben allein 65.200 Frauen in Österreich an, dass sie ihre Arbeitszeit ausweiten würden, wenn sie mehr Kinderbetreuung hätten.

Der Nutzen von Kinderbildung und Kinderbetreuung geht aber darüber hinaus: Kinder profitieren, weil in diesen Jahren das Fundament für ihre persönliche Entwicklung gelegt wird und sie Chancengerechtigkeit erhalten, Eltern profitieren, weil sie erst dann, wenn ein entsprechendes Betreuungsangebot vorhanden ist, echte Wahlfreiheit haben, und natürlich profitieren die Betriebe und die Gesellschaft.

Das ibw (Institut für Bildungsforschung der Wirtschaft) hat errechnet, dass jeder in frühkindliche Bildung investierte Euro achtfach an die Gesellschaft zurückkommt. Investitionen in Kinderbildung und Kinderbetreuung sind also ein Gewinn fürs ganze Land.

Österreich hinkt vor allem bei der Betreuungsquote der unter 3-Jährigen hinterher, das Barcelona-Ziel einer Betreuungsquote von 33 Prozent wird seit Jahren nicht erreicht. Was sind aus Ihrer Sicht die Hauptgründe dafür?

Ein wesentlicher Grund für den äußerst unbefriedigenden Status quo sind die fragmentierten Zuständigkeiten in Österreich. Bund, Länder, Gemeinden sowie private Träger teilen sich – je nach Bundesland unterschiedlich – die Kompetenzen auf. Es gibt keinen vorgegebenen qualitativen Rahmen, keine einheitlichen Gruppengrößen und sogar die Gehälter der Elementarpädagog:innen variieren je nach Bundesland. Das wiederum macht die Finanzierung sehr komplex und das gesamte System Kinderbetreuung intransparent und schwer administrierbar. 

Was können Gemeinden tun, um diese Situation zu ändern?

Es muss uns klar sein: Kinder sind keine heiße Kartoffel, deren Anliegen von einer Ebene zur anderen herumgeschoben werden, sondern Kinder sind der größte Schatz, den ein Land hat.

Die Zeit des Herumeierns und des Verschiebens von Verantwortung von einer Ebene zur anderen muss daher endlich vorbei sein. Jetzt geht es darum, Rückgrat zu zeigen und mutige Entscheidungen zu treffen. Dies können innovative Konzepte für Gemeindekooperationen sein, ein attraktives Angebot an Nachmittagsbetreuung sowie die Abdeckung von Ferienzeiten oder eine wohnortnahe Betreuung nach dem Vorarlberger Modell. Und ja, die Gemeinden sind da sicher in einer herausfordernden Situation, denn es gibt fixe Planungshorizonte im kommunalen Bereich – gleichzeitig muss es gelingen, die Kinderbetreuung in den Regionen zu stärken. 

Ein Grund, warum manche Gemeinden keine ganztägige Betreuung anbieten, ist auch, dass sie oft gar nicht nachgefragt wird. 

Das ist ein Katze-beißt-sich-in-den-Schwanz-Problem. Viele Eltern, insbesondere Frauen, arbeiten nur für wenige Stunden und benötigen daher nicht mehr Betreuung. Umgekehrt arbeiten viele Teilzeit, weil es nicht ausreichend Betreuungsplätze mit Öffnungszeiten gibt, die mit einer modernen Arbeitswelt kompatibel sind. Daher brauchen wir attraktive  Kinderbetreuung ebenso wie mehr Anreize, um Stunden aufzustocken. Und ich bin überzeugt: Wenn wir erst das Angebot schaffen, dann ist auch eine Nachfrage da. Denn erst wenn es das Angebot gibt, besteht echte Wahlfreiheit.

Viele Gemeinden würden gerne bessere Kinderbetreuung anbieten, können sich das aber nicht leisten. Wie sollen sie die Kosten des Ausbaus stemmen?

Es ist richtig, dass Investitionen nötig sind. Doch Kinderbildung und Kinderbetreuung muss uns etwas wert sein. Um die Ziele, die wir uns gesetzt haben, zu erreichen, sind bis 2030 kumuliert Investitionen von österreichweit 6,32 Milliarden Euro nötig. Diesen stehen aber Mehreinnahmen an Lohnsteuer, Körperschaftssteuer, Mehrwertsteuer etc. gegenüber, sodass die fiskalischen Effekte bereits 2027 höher wären als die Ausgaben. Außerdem erhöht sich das BIP durch den Ausbau ab 2030 um 7,01 Milliarden Euro pro Jahr. Das zeigt: Investitionen in unsere Kinder sind echte Zukunftsinvestitionen.

Im Finanzausgleich wird den Gemeinden dennoch oft nicht genug Geld dafür zur Verfügung gestellt. 

Ich habe volles Verständnis dafür, dass Gemeinden eine Reihe von Investitionen haben, die Geld kosten. Im Finanzausgleich muss man jetzt Prioritäten setzen.

Wir wissen aus einer market-Umfrage, dass ein Ausbau der Kinderbetreuung auch in der Bevölkerung oberste Priorität hat. Jeweils 81 Prozent der Bevölkerung und der befragten Unternehmen sagen, dass ein Ausbau des Betreuungsangebots wichtig oder sogar sehr wichtig wäre. 

Wir müssen daher mutige Investitionen tätigen – Investitionen in kleine Kinder sind das bestinvestierte Geld, das die Republik ausgeben kann. 

Sie haben in der Agenda Kinderbildung & Kinderbetreuung sehr ehrgeizige Ziele formuliert, etwa die Erhöhung der Betreuungsquote der unter 3-Jährigen auf 45 Prozent bis 2030. Ist das realistisch und gibt es überhaupt ausreichend Personal dafür? 

Die personelle Situation ist tatsächlich ein Engpassfaktor. Es muss mehr Anerkennung für das Personal geben und auch eine Bezahlung, die der gesellschaftlichen Wichtigkeit ihrer Tätigkeit entspricht. Es ist viel mehr als nur Betreuung. Auch darf es keinen Wildwuchs bei der Aus- und Weiterbildung geben, diese darf im Burgenland nicht anders aussehen als in Vorarlberg. Dasselbe gilt für Öffnungszeiten, Ferienöffnung oder Gruppengrößen. 

Mit unserer Agenda liegt die Bauanleitung für Bund, Länder und Gemeinden auf dem Tisch und könnte ab sofort umgesetzt werden. Die Ziele sind durchaus realistisch. Wir brauchen nur endlich einen nationalen Schulterschluss. 

Agenda Kinderbildung & Kinderbetreuung

Die Agenda Kinderbildung & Kinderbetreuung wurde von der WKÖ gemeinsam mit Experten entwickelt. Sie definiert konkrete Maßnahmen in den drei Handlungsfeldern frühkindliche Bildung, qualitativer und quantitativer Ausbau des Betreuungsangebots sowie Personal- und Ausbildungsoffensive. 

Jetzt sei, so Mahrer, die Politik am Zug: Setzt sie die vorgeschlagenen Maßnahmen um, dann sollten laut WKÖ die in der Agenda gesteckten Ziele erreicht werden können. Sie lauten, bis 2030 die Betreuungsquote der unter 3-Jährigen auf 45 Prozent anzuheben, in der Betreuung der 3- bis 6-Jährigen echte Wahlfreiheit zu schaffen und die Öffnungszeiten um zwei Stunden pro Tag auszuweiten.