Es fehlt an Geld und Personal
Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung – die Situation in Deutschland
Hochgekocht ist die Diskussion in Baden-Württemberg unter anderem deshalb noch einmal, weil sich mit dem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in den Grundschulen, der ab 2026 greifen wird, die Situation zuspitzen könnte. „Der neue Rechtsanspruch zielt auf das gleiche, nicht vorhandene Fachpersonal und droht damit den Fachkräftemangel in den Kitas noch weiter zu verschärfen“, kritisiert Jäger.
Denn in Deutschland gibt es den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ab dem vollendeten ersten Lebensjahr bereits seit 2013. Ein Kraftakt für Süd- und Westdeutschland, wo die U3-Betreuung – im Gegensatz zu Ostdeutschland – keine Tradition hat. Infrastruktur und Stellen müssen erst aufgebaut werden. Auch acht Jahre nach Beginn des Rechtsanspruchs ist das finanziell und personell kaum zu stemmen.
Kaum lösbare Aufgabe für die Kommunen
Trotz enormen Anstrengungen zeigt sich etwa in Baden-Württemberg, dass die Kommunen von der Bundesebene vor eine kaum lösbare Aufgabe gestellt wurden.
„Wir haben in Baden-Württemberg seit 2011 die Zahl der Facharbeitskräfte verdoppelt und die Zahl der Kita-Plätze um mehrere Zehntausend erhöht“, erklärt Steffen Jäger gegenüber KOMMUNAL. „Heute geben die Städte und Gemeinde zweieinhalb Mal so viel für die frühkindliche Bildung und Betreuung aus wie noch vor zehn Jahren. Trotz dieses Kraftakts können wir im Moment in der Fläche nicht gewährleisten, dass jeder Betreuungsbedarf gedeckt werden kann.“
Doppelt so viel Personal nötig
Eine aktuelle Bertelsmann-Studie kommt zu dem Schluss, dass sich das Fachpersonal an den baden-württembergischen Kitas bis 2030 fast verdoppeln müsste, um dem Rechtsanspruch bei gleichbleibender Betreuungsqualität gerecht werden zu können.
„Entgegen früheren Prognosen sind die Geburtenzahlen in den vergangenen Jahren gestiegen - und mit ihnen der Bedarf“, so Jäger. „Es werden in Baden-Württemberg bis 2030 je nach zugrunde liegenden Qualitätsstandards und Inanspruchnahme zwischen 20.000 und 40.000 zusätzliche Fachkräfte benötigt.“
Laut „Fachkräfte-Radar für Kita und Grundschule“ hat sich die Zahl der unter Dreijährigen in Kitas im letzten Jahrzehnt fast verdoppelt – von 57.000 Kindern 2011 auf 100.000 Kinder 2020. Sieht man sich die Situation in Ostdeutschland an, ist davon auszugehen, dass sich die Zahl noch einmal deutlich erhöhen wird. Während im vergangenen Jahr ein Drittel der baden-württembergischen Ein- und Zweijährigen in Kitas betreut wurden, waren es in Ostdeutschland 57 Prozent. Zur Wahrheit gehört auch: Der Betreuungsschlüssel liegt in Baden-Württemberg bei drei U3-Plätzen pro Fachkraft, in Ostdeutschland sind es 5,5.
„Puffer gibt es keine mehr“
In den Städten und Gemeinden ist der Fachkräftemangel schon heute sichtbar. In der 6.100-Einwohner-Gemeinde Waldachtal ist der Bedarf an U3-Plätzen von null 2013 auf 45 Plätze 2015 angestiegen. Seit drei Jahren liegt er konstant bei 50 Plätzen. Das Personal ist in den letzten Jahren knapp geworden und kann nur schwer nachbesetzt werden.
„Puffer gibt es keine mehr“, sagt Bürgermeisterin Annick Grassi. Daher ist ihr auch die Ausbildung neuer Fachkräfte ein großes Anliegen. Hier sieht sie Unterstützungsbedarf durch Bund und Land: „Uns wäre sehr damit geholfen, wenn die Ausbildung von Personal bezuschusst werden würde. Wenn Auszubildende nicht auf den Personalschlüssel angerechnet würden und einfach nur zusätzlich da wären, könnte eine qualifizierte Ausbildung stattfinden. Diese zusätzlichen Kosten kann sich aber aktuell kaum eine Kommune leisten.“
Während der Bedarf in Waldachtal mit Mühe gedeckt werden kann, ist das im 6.600 Einwohner zählenden Dettenheim nicht immer der Fall gewesen. Hier steigt der Bedarf nach U3-Betreuungsplätzen kontinuierlich an. Wenn Stellen zwischenzeitlich nicht besetzt werden konnten, wurde das Betreuungsangebot entsprechend vorübergehend zurückgefahren. „Es sollte Öffnungsklauseln geben, damit mehr Quereinsteiger das Personal unterstützen können“, fordert Bürgermeisterin Ute Göbelbecker.
Hilfe bei der Finanzierung notwendig
Deutliche Worte zur Finanzierung findet man in Wilhelmsdorf. Dort besucht mittlerweile die Mehrheit der Zweijährigen eine Kita. Die Betreuungssituation ist dank vieler neu geschaffener Plätze gut, diese haben jedoch auch ihren Preis.
„Wir brauchen dringend Hilfe bei der Finanzierung der Investitionen und der laufenden Kosten“, sagt Bürgermeisterin Sandra Flucht. „Der Eigenanteil unserer Gemeinde nach Abzug von Zuschüssen und Elternbeiträgen an den laufenden Kosten beträgt zwischenzeitlich 1,5 Millionen Euro pro Jahr – bei einer kleinen Gemeinde mit 5.000 Einwohnern. Jede neu zu bauende Kindergarten-Gruppe kostet rund eine Million Euro. Das ist künftig angesichts der Vielzahl von kommunalen Aufgaben – Stichwort: Erhalt der Infrastruktur bei Gebäuden, Straßen etc. oder auch Ausbau der Breitbandversorgung – nicht mehr zu stemmen.“ Auch an den Standards für Räume und Ausstattung könne man auf lange Sicht nicht festhalten – zu hoch und zu unflexibel. Mehr Flexibilität brauche es ebenso beim Personalschlüssel.
Welche Maßnahmen sind erforderlich?
Der Gemeindetag Baden-Württemberg kennt diese Problematiken und fordert daher Lösungen auf zwei Ebenen, wie Präsident Steffen Jäger erklärt: „Wir brauchen kurzfristige Maßnahmen, die in der aktuellen Notlage schnell greifen, um das Bildungs- und Betreuungsangebot aufrechterhalten zu können. Hier kommen Übergangsregelungen im Hinblick auf Mindestpersonalschlüssel und Höchstgruppenstärke in Betracht.
Daneben müssen Maßnahmen entwickelt werden, die dauerhaft die Abdeckung des Personalbedarfs sichern. Bausteine werden unter anderem sein, mehr Menschen einen Quereinstieg zu ermöglichen und nicht pädagogische Tätigkeiten durch andere Kräfte abzudecken. Unsere Kommunen stehen vor großen Herausforderungen und Anstrengungen, um eine verlässliche Kita-Betreuung zu gewährleisten, die sie nicht alleine bewältigen können.“