Kenan Güngör: „In einer Gemeinde ist man länger fremd, aber wenn man einmal drinnen ist, dann ist das verbindlicher als in der Stadt.“

© Marko Mestrovic

„Gemeinden können auf zivilgesellschaftliches Engagement aufbauen“

Der kurdisch-türkischstämmige Soziologe Kenan Güngör über die Integration von Flüchtlingen in kleinen Gemeinden.

Ist Integration in einer kleinen Gemeinde leichter oder schwieriger als in einer Großstadt?

Beides. In einer kleinen Gemeinde gibt es einerseits Faktoren, die die Integration erschweren, andererseits auch solche, die es leichter machen sich zu integrieren.

Zuwanderung erfolgte bisher meistens in große Städte, die daher mehr Erfahrung auf diesem Gebiet haben. Das Besondere an der derzeitigen Migrationswelle ist, dass sie nicht nur in die städtischen Agglomerationen erfolgt, sondern aufgrund der Verteilung auf die Bundesländer auch in den ländlichen Raum.

Dort ist es oft so, dass die einheimische Bevölkerung nicht mehr dort arbeitet, wo sie lebt. Die Menschen müssen an ihren Arbeitsplatz pendeln und kommen manchmal nur zum Schlafen in ihre Gemeinde. Begegnungen mit dort lebenden Flüchtlingen können daher nicht im Beruf, sondern nur im sozialen Bereich stattfinden. Verknüpfungsmöglichkeiten im Alltag gibt es kaum.

Für das Gelingen von Integration wäre es aber wichtig, dass es möglichst viele Schnittstellen – in der Arbeit, am Spielplatz, im Kindergarten etc. – gibt. Da die wenigsten Kommunen Arbeitsmöglichkeiten anbieten können, wo man einander treffen könnte, bleibt oft nur der soziale Bereich – und da nur abends oder am Wochenende.

Heißt das, dass die Flüchtlinge sich ehrenamtlich engagieren müssten?

Das Problem dabei ist, dass bestehende und traditionsreiche Vereine oft sehr exklusiv sind. Das ist verständlich: Die im Ort lebenden Menschen kennen einander oft schon seit Jahrzehnten. Diese Vergemeinschaftung nach innen macht es aber für Neuankömmlinge schwierig hineinzukommen. In einer Gemeinde ist man länger fremd, aber wenn man einmal drinnen ist, dann ist das verbindlicher als in der Stadt.

Welche Maßnahmen kann eine kleine Gemeinde setzen?



In der Flüchtlingsfrage gibt es einerseits starke Abwehrhaltungen, aber anderseits auch eine enorme Bereitschaft zu helfen. In vielen Orten haben die Menschen nicht gewartet, was die Politik tut, sondern die Angelegenheit selbst in die Hand genommen. So sind Initiativen und Vereine entstanden, die ein Bindeglied zwischen den Migranten, die aus einer vollkommen anderen Welt kommen, und den Menschen und Strukturen in der Gemeinde bilden. Diese engagierten Menschen haben eine enorm wichtige Brückenfunktion. Das gab es während früherer Migrationswellen nicht. Auf dieses zivilgesellschaftliche Engagement kann die Politik – auch in der Gemeinde – aufbauen. Wichtig ist es auch, sich mit anderen Kommunen zu vernetzen und voneinander zu lernen – auch von Fehlern, die gemacht wurden.

Zum Beispiel?

Es wurde oft der Fehler gemacht, dass man Menschen einen Job und eine Sozialversicherung gegeben hat, sie also strukturell eingebunden hat, aber ihnen nie soziale Wärme spüren lassen. In der derzeitigen Situation übernehmen das die vorher erwähnten ehrenamtlichen Einheimischen. Das kann dazu führen, dass die Migranten eine positive Beziehung zum Land aufbauen.

Sind die Menschen, die derzeit nach Österreich kommen, anders zu behandeln als jene, die während vorhergehender Flüchtlingswellen – etwa während der Kriege im früheren Jugoslawien – gekommen sind?

Beides sind Kriegsflüchtlinge, die nicht freiwillig aus ihrer Heimat weggegangen sind. Ein Unterschied ist, dass jetzt mehr junge Männer gekommen sind. Das erinnert an die erste Welle der Migration von Gastarbeitern. Diese wurden aber damals aktiv geholt, um zu arbeiten, während heute die Arbeitsmarktsituation wesentlich schwieriger ist.

Während der Jugoslawienkriege kamen eher ganze Familien. Die Männer, die jetzt hier sind, haben Familien, die oft über mehrere Staaten verstreut sind. Diese Männer sind also mit dem Kopf oft ganz woanders. Ich kenne aktuell einige Beispiele von Männer, die wieder zurückgegangen sind, weil sie ihre Familien nicht nachholen durften.

Ein Unterschied zu den Jugoslawien-Flüchtlingen ist, dass sie nicht nur nicht die Sprache sprechen, sondern auch erst latinisiert werden müssen, also auch die Schrift lernen müssen. Auch ist die Kultur ganz eine andere als hierzulande. Als Beispiel wird oft die unterschiedliche Bedeutung von Religion genannt. Das stimmt zum Teil. Es gibt aber auch Menschen, die aus Regionen stammen, die sehr säkular geprägt sind.

Auch die Rolle von Mann und Frau wird in den Herkunftsländern oft ganz anders gesehen als hierzulande. Das kann man kritisieren, aber man kann niemanden vorwerfen wo er sozialisiert wurde.

Sind die Leute bereit ihre Einstellungen zu ändern?

Das ist sehr unterschiedlich. Flüchtlinge, die aus urbanen Regionen kommen, haben oft Angst, in kleinen Gemeinden zu vereinsamen. Gerade, weil in diesen Orten tagsüber oft kaum Menschen sind. Dann gibt es natürlich auch viele, die sehr dankbar sind hier sein zu können. Und es gibt auch viele, die zwar vor dem Krieg geflüchtet sind, aber trotzdem sehr traditionell und religiös geprägt sind. Man kann also nicht alle über einen Kamm scheren, und man muss den Menschen auch zeigen, wie die Dinge in Österreich ablaufen, wie das Land „tickt“.

Können Integrationskurse etwas bewirken?

Ja, aber Kurse alleine genügen nicht. Die Menschen sind oft sehr neugierig und versuchen zu verstehen, warum Dinge hier anders ablaufen als dort, wo sie zuhause sind.



Welche Lehren hat man aus früheren Migrationswellen ziehen können? Was wurde falsch, was wurde richtig gemacht?

Ein Fehler, der früher gemacht wurde, war, dass man davon ausgegangen ist, dass die Menschen wieder gehen werden. Das hat sich als falsch erwiesen. Jetzt weiß man, dass man mit der Integration so früh wie möglich beginnen muss.



In Österreich hat man viel Erfahrung mit Immigration. Das merkt man in vielen Bereichen. Anderen Ländern, wie Polen oder Ungarn, fehlt diese Erfahrung. Das mag auch ein Grund für die ablehnende Haltung sein, die dort herrscht.

Was können Gemeinden, was können Bürgermeister tun, um der eigenen Bevölkerung die Angst zu nehmen, wenn Flüchtlinge im Ort untergebracht werden?

Gerade in kleineren Gemeinden haben die Bürgermeister eine sehr starke Position. Diese können sie integrierend oder desintegrierend nutzen. Ich habe schon öfters erlebt, dass engagierte Freiwillige verzweifeln, weil sie keine Unterstützung vom Bürgermeister erhalten. Anderseits gibt es auch viele Gemeinden, wo der Bürgermeister die Freiwilligen stark unterstützt und als Brücke zwischen Einheimischen und Migranten fungiert.



Es hat sich bewährt, zu Veranstaltungen einzuladen und über das Thema zu sprechen. Dort können die Menschen ihre Sorgen vorbringen und Fragen zu stellen. Die Leute sollten das Gefühl haben, dass die Situation gestaltbar ist und man nicht einfach überrannt wird.



Durch das Durchgriffsrecht des Bundes sind die Bürgermeister ja quasi aus der Verantwortung genommen ob in einer Gemeinde Flüchtlinge untergebracht werden oder nicht.



Der Bürgermeister muss sich jetzt nicht mehr aktiv bemühen, wenn er meint, dass in seiner Gemeinde Flüchtlinge untergebracht werden sollten. Wenn es vom Bund so angeordnet wird, dann muss er sich entscheiden, ob er sich mit einer ablehnenden Haltung profilieren will oder ob er pragmatisch damit umgeht.



Manche Bürgermeister fürchten wohl, dass sie die nächste Wahl verlieren, wenn sie sich zu sehr für Flüchtlinge engagieren.



Es ist nicht gut, wenn man etwas tut, aber sich dafür schämt. Dadurch wirkt man schwach. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man die Sorgen der Leute ernst nehmen muss, aber darüber hinaus noch einen Schritt weiter gehen und Führungsstärke zeigen muss. Dann sind die Menschen auch bereit mitzugehen.



Es gibt natürlich immer welche, die kategorisch nein sagen, aber viele denen einerseits klar ist, dass man den Kriegsflüchtlingen helfen muss, aber anderseits Angst haben, dass das Land überfordert wird. In einer solchen Situation neigen Menschen dazu, in eine der beiden Richtungen zu kippen. Hier kann man als Bürgermeister stabilisierend wirken. Man muss der Bevölkerung klar machen, dass die Situation zwar schwierig ist, aber dass man versuchen muss, sie zu bewältigen. Man sollte also weder „Hurra“ schreien noch „böse, böse“ sagen, wenn Flüchtlinge in die Gemeinde kommen.