Familie beim Spazierengehen mit Mund-Nasen-Schutz
Eine niedrige Bevölkerungsdichte hat sich nicht als wirksamer Schutz gegen das Virus erwiesen.
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COVID-19 und der ländliche Raum

vonJan Kluge , 12. Mai 2020
Das neuartige Coronavirus SARS-Cov-2 hat die Welt Anfang März 2020 in eine Schockstarre versetzt, wie sie seit Jahrzehnten nicht mehr vorgekommen ist. In vielen Ländern stand das öffentliche Leben für einige Wochen weitgehend still. Bis Anfang Mai erkrankten weltweit über drei Millionen Menschen an COVID-19; über 250.000 starben infolge der Infektion mit dem Virus.

Jetzt, da zumindest in Österreich die erste Welle abgeklungen zu sein scheint, muss das wirtschaftliche Scherbenaufsammeln beginnen. Die Folgen für die Unternehmen sind – nachdem sie wochen- oder monatelang keine oder nur sehr reduzierte Umsätze hatten – immens. Viele Millionen Menschen haben weltweit ihre Jobs verloren. Vor den Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute stehen für das Gesamtjahr 2020 dicke Minuszeichen.

Wie lange es dauern wird, bis sich die Weltwirtschaft mit ihren komplexen internationalen Verflechtungen von diesem Schockerlebnis erholt hat, wird davon abhängen, wie schnell nun wieder so etwas wie Normalität hergestellt werden kann und ob eventuell weitere Pandemiewellen auftreten.

Auch wenn es zynisch anmutet, Todeszahlen zwischen Ländern zu vergleichen und sich auf die Schulter zu klopfen, dass in anderen Ländern mehr Menschen gestorben sind, so ist doch zu konstatieren, dass Österreich bislang vergleichsweise glimpflich durch die Krise gekommen ist. Angesichts der dramatischen Erlebnisse in Italien und infolge der anfänglich explosionsartigen Verbreitung des Virus in den Wintersportgebieten wurde hierzulande frühzeitig mit Veranstaltungsverboten, Geschäfts- und gar Grenzschließungen sowie Kontaktbeschränkungen reagiert. Bis Anfang Mai wurden rund 600 Todesfälle in Österreich auf COVID-19 zurückgeführt.

Die regionale Betroffenheit durch das Virus

Für nicht epidemiologisch Gebildete (also auch für ÖkonomInnen) kann die Verteilung der Infektionen über das österreichische Staatsgebiet durchaus überraschen. Ein Virus benötigt für seine Verbreitung von Wirt zu Wirt räumliche Nähe. Man könnte also meinen, dass es sich in weniger dicht besiedelten Regionen grundsätzlich langsamer verbreiten müsste, weil hier im Alltag weitaus weniger Menschen aufeinandertreffen als in Städten. Die Reproduktionszahl, die beschreibt, wie viele Personen ein/e Infizierte/r im Durchschnitt ansteckt, sollte demnach niedriger sein. Und wenn aufgrund der niedrigen interregionalen Mobilität nur wenig Austausch mit dem Rest der Welt besteht, dann sollte das noch zusätzlich dazu beitragen, dass ländliche Regionen nur wenige Infektionsfälle zu beklagen haben.

Die Daten des Gesundheitsministeriums sprechen jedoch eine andere Sprache: Die Inzidenz, also die Zahl der Infektionen je 100.000 EinwohnerInnen, ist im ländlichen Raum sogar deutlich höher als in den Städten.

Definiert man den ländlichen Raum als Gebiete mit einer Bevölkerungsdichte von weniger als 150 EinwohnerInnen je km² (mit diesem Grenzwert arbeitet z. B. die OECD), so zeigt sich, dass die am stärksten betroffenen Bezirke dem ländlichen Raum angehören; fast zwei Drittel der in Österreich jemals positiv Getesteten leben weit außerhalb der Ballungsräume. In Zahlen ausgedrückt: In den Bezirken über 150 EinwohnerInnen je km² betrug die Inzidenz Anfang Mai 142; in denen darunter lag sie bei 206. Auch wenn man die sehr stark betroffenen Bundesländer Tirol, Salzburg und Vorarlberg, wo Gemeinden zeitweise unter Quarantäne gestellt werden mussten, ausklammert, dann sinkt die Inzidenz auf dem Land ungefähr auf das Niveau der Städte; niedriger ist sie aber weiterhin nicht.

Eine niedrige Bevölkerungsdichte hat sich also nicht als wirksamer Schutz gegen das Virus erwiesen. Viele der ersten Infektionsherde in unseren Breiten wurden im Zuge von Veranstaltungen ausgelöst, die bis zum Lockdown überall und in unüberschaubarer Zahl stattgefunden haben – in Städten ebenso wie im ländlichen Raum. Wo dann letztlich eine Veranstaltung zum Infektionsgeschehen wurde, war weitestgehend Zufall. In den Wintersportregionen Österreichs, Südtirols und der Schweiz waren das Après-Ski Veranstaltungen oder Ärztekongresse; in Deutschland waren es vor allem Karnevalsveranstaltungen. Es war also zu Beginn dem Zufall überlassen, welche Bezirke betroffen waren und welche verschont blieben. Dass Murau zum Beispiel bis Anfang Mai nur sieben Infizierte verzeichnete, lässt sich jedenfalls nicht allein auf die dünne Besiedlung zurückführen; der Bezirk Lienz in Tirol ist ähnlich dünn besiedelt, hat aber das Zweiundzwanzigfache an Infektionen zu beklagen.

Die regionale wirtschaftliche Betroffenheit durch die Eindämmungsmaßnahmen

In Österreich wurden frühzeitig und flächendeckend strikte Maßnahmen verordnet, um das Virus einzudämmen. Abgesehen von einigen Wintersportgegenden, in denen zeitweise strengere Ausgangsbeschränkungen verhängt wurden, galten die meisten Regeln überall gleichermaßen. Auch im Bezirk Murau mussten Hotels und Gastronomie schließen sowie Veranstaltungen abgesagt werden.

Obwohl es also – zwar keine systematischen aber doch immerhin zufällige – Unterschiede in den regionalen Betroffenheiten durch das Virus an sich gab, werden die wirtschaftlichen Folgen flächendeckend zu spüren sein. Dabei gilt, dass die regionale Betroffenheit in erster Linie die sektorale Betroffenheit widerspiegeln wird; d. h. Regionen, in denen viele Menschen in stark betroffenen Sektoren arbeiten (wie z. B. im Tourismus), werden stärker in Mitleidenschaft gezogen sein als andere. Um die regionale Betroffenheit zu beurteilen, benötigt man also Wissen über die sektoralen Betroffenheiten.

Genau hier fangen nun aber die Probleme an: Wie stark die Sektoren betroffen sein werden, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nur kursorisch abschätzen. WirtschaftsforscherInnen stehen vor dem Dilemma, dass eine solche Abschätzung so gut wie gar nicht auf empirischen Daten oder Expertisen aus vergangenen, ähnlichen Krisen beruhen kann – schlicht, weil es eine vergleichbare Krise nicht gegeben hat. Und doch ist eine Abschätzung notwendig; schon allein, um die verschiedenen staatlichen Hilfspakete effektiv koordinieren zu können.

Die Lösung besteht in der Regel in ExpertInneneinschätzungen, in denen möglichst viele ForscherInnen mithilfe aller ihnen zur Verfügung stehenden Datenquellen ein in sich stimmiges Gesamtbild entwerfen und dieses ständig um neu hinzukommende Informationen ergänzen, um Schritt für Schritt die Annahmen durch Beobachtungen zu ersetzen. Solche ExpertInneneinschätzungen wurden z. B. durch das Wifo oder die Österreichische Nationalbank (OeNB) abgegeben; auch das IHS legt solche Einschätzungen regelmäßig vor.

Bei solchen Einschätzungen ist immer zu berücksichtigen, dass es unterschiedliche Gründe gibt, aus denen Sektoren von COVID-19 betroffen sind: Der Tourismus ist z. B. dadurch betroffen, dass er aufgrund der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie sein Angebot zeitweise komplett einstellen musste. Teile der Industrie leiden darunter, dass internationale Lieferketten nicht mehr funktionieren; ein anderer Teil leidet unter einer reduzierten Nachfrage aus dem In- und Ausland. Die Sektoren unterscheiden sich zudem auch in ihrer Fähigkeit, erlittene Nachfrageeinbußen im verbleibenden Jahr 2020 wieder aufzuholen. In der Industrie kann so etwas möglich sein; im Dienstleistungssektor ist es eher unwahrscheinlich.

Tabelle 1 zeigt die Betroffenheiten und die Aufholmöglichkeiten, wie sie von der OeNB angenommen wurden. Wenig überraschend sind dabei Gastronomie und Beherbergung sowie der Kultursektor am stärksten betroffen; letzterer wird ausgefallene Kulturveranstaltungen auch nicht wieder aufholen können.

Sektorale Betroffenheiten

Diese Daten lassen sich nun auf die sektorale Beschäftigungsstruktur der Gemeinden umlegen, die sich aus der abgestimmten Erwerbsstatistik von Statistik Austria ablesen lässt. Das Ergebnis dieser Übung ist in Abbildung 1 beispielhaft für die Gemeinden dargestellt, die rein hypothetisch – d. h. wenn die getroffenen Annahmen auch wirklich eintreffen würden – jeweils am stärksten bzw. am wenigsten betroffen wären:

Eine Gemeinde wie die links dargestellte (im Beispiel: Aderklaa in Niederösterreich) käme am besten durch die Krise (1 % Nachfragerückgang für das gesamte Jahr 2020). Die meisten der dort Beschäftigen sind in der Landwirtschaft tätig. Da diese eher geringe Auswirkungen zu befürchten hat, kann man annehmen, dass auch die Gemeinde insgesamt verhältnismäßig wenig betroffen sein wird. In der rechts dargestellten Gemeinde (im Beispiel: Jungholz im gleichnamigen Tiroler Skigebiet) lebt dagegen praktisch jede/r vom Tourismus; entsprechend sind dort die Aussichten düsterer (4 % Nachfragerückgang für das gesamte Jahr 2020).

Abbildung 1: Die am wenigsten und die am meisten betroffene Gemeinde in Österreich

Die am wenigsten und die am meisten betroffene Gemeinde in Österreich
Quelle: STATcube – Statistik Austria (und eigene Berechnungen des IHS). Dargestellt ist die Beschäftigungsstruktur. Die Buchstaben A-U entsprechen der Wirtschaftszweigklassifikation ÖNACE.

Beide Gemeinden sind natürlich sehr klein und stellen aufgrund der äußerst geringen sektoralen Diversifikation ihrer Beschäftigungsstruktur Extremfälle dar. Beide sind auch eindeutig als ländlich einzustufen, sodass sie auf die Frage der unterschiedlichen Betroffenheit in Stadt und Land noch keine Antwort liefern. Das versucht Abbildung 2. Hier wird nun der etwas genauere, dreistufige Indikator für städtische und ländliche Räume der Europäischen Kommission (2020) verwendet.

Die Boxplots stellen jeweils die Verteilung der Nachfragerückgänge in den Gemeinden dar. Die Hälfte der Gemeinden liegt jeweils innerhalb des Kastens; die horizontale Linie stellt jeweils die Mediangemeinde dar. Punkte außerhalb der oberen und unteren Begrenzung werden als Ausreißer bezeichnet.

Solche gibt es im großen Stil in der Gruppe der ländlichen Gemeinden. Es sind hier vor allem die Gemeinden in den Wintersportgebieten, die ihre Saison vorzeitig abbrechen mussten und die diese Umsatzeinbußen in diesem Jahr nicht mehr werden aufholen können. Davon abgesehen sind die Unterschiede zwischen den drei Gruppen aber marginal; im ländlichen Raum geht die Nachfrage im Schnitt um gut 0,2 Prozentpunkte weniger zurück als in den Städten.

Es gibt aber offensichtlich im ländlichen Raum Härtefälle, die bei einer solchen Durchschnittsbetrachtung unter den Tisch fallen würden. Solche Härtefälle, d. h. Ausreißer nach unten, gibt es im städtischen Bereich nicht. Das liegt vor allem auch daran, dass die Beschäftigungsstruktur in größeren Städten in der Regel stärker diversifiziert ist als in kleineren Gemeinden, sodass sich dort sektorspezifische Schocks weniger stark in der Gesamtentwicklung niederschlagen.

Abbildung 2: Nachfragerückgang 2020 (in %) nach Urbanisierungsgrad

Nachfragerückgang
Quelle: STATcube – Statistik Austria, OeNB, eigene Berechnungen des IHS.

Abbildung 3 stellt schließlich dar, wie sich die einzelnen Sektoren annahmegemäß (also wie durch die OeNB unterstellt, siehe Tabelle 1) in den drei Gruppen von Gemeinden entwickeln werden. Dargestellt sind hier Wachstumsbeiträge, also das Produkt aus angenommenem Nachfragerückgang über das Gesamtjahr 2020 (inkl. Nachholeffekte) und Beschäftigungsanteil in Prozent.

Eine Gemeinde ist also umso stärker betroffen, je höher ihr Beschäftigungsanteil in besonders betroffenen Sektoren ist. Dass sich die drei Gruppen von Gemeinden im Gesamteffekt nur unwesentlich unterscheiden, haben wir schon gesehen. Obwohl die Effekte in Summe zu ähnlichen Nachfragerückgängen führen, kommen sie aber für die drei Gruppen aus durchaus unterschiedlichen Richtungen.

Außerhalb der Städte sind die Effekte durch die Industrie („Herstellung von Waren“) deutlich stärker; auch im Bausektor geht es steiler nach unten. Der urbane Raum hat dagegen vor allem mit dem Rückgang in der Gastronomie, in einigen Dienstleistungssektoren und im Kultursektor zu kämpfen. Diese Sektoren ziehen die Entwicklung zwar überall nach unten; da sie im ländlichen Raum aber weniger Gewicht haben, passiert das dort gedämpfter. Am günstigsten käme eine hypothetische Gemeinde – wirtschaftlich gesehen – durch die Krise, deren Beschäftigte nur in der Landwirtschaft, in der Energieversorgung oder im öffentlichen Sektor (Verteidigung, Bildung, Verwaltung, Gesundheit etc.) aktiv sind. 

Abbildung 3: Wachstumsbeiträge der Sektoren in Stadt und Land (für 2020, in Prozent)

Wachstumsbeiträge der Sektoren in Stadt und Land
Quelle: STATcube – Statistik Austria, OeNB, eigene Berechnungen des IHS.

Fazit

Ob sich der Wunsch nach einem schnellen Ende von COVID-19 aus medizinischer Sicht erfüllen wird, werden die nächsten Monate zeigen. Fakt ist, dass uns die wirtschaftlichen Effekte noch eine lange Zeit beschäftigen werden. Die Regierung hat eine Reihe von Hilfsmaßnahmen aufgelegt, um die ökonomischen Auswirkungen abzumildern. Ein effektiver Zuschnitt der Hilfsprogramme auf die Bedürfnisse in den unterschiedlichen Sektoren erscheint sinnvoll: Einige benötigen nur schnelle Liquiditätshilfen zur Überbrückung der Krise; andere werden dagegen längerfristig und strukturell Unterstützung brauchen.

Man könnte meinen, dass all das auf die wirtschaftliche Lage des ländlichen Raums wenig Einfluss hat. Da er insgesamt nicht stärker oder schwächer betroffen ist als die Städte, wird er automatisch mitbehandelt, wenn alle Sektoren durch Hilfsmaßnahmen effektiv bedacht werden. Die obige Betrachtung hat aber gezeigt, dass viele ländliche Gemeinden stark spezialisiert sind, sodass die sektoralen Effekte überproportional stark auf ihre Beschäftigungslage durchschlagen könnten. Gerade aufgrund ihrer geringen Größe und der starken Spezialisierung sind ländliche Gemeinden deutlich weniger resilient als große, breit aufgestellte Städte. Sie haben kaum Möglichkeiten, sich nach einer so beispiellosen Krise neu zu organisieren.

Dazu kommt, dass ein Arbeitsplatzverlust im ländlichen Raum aufgrund der deutlich geringeren Arbeitsplatzdichte sehr viel schmerzlicher ist und entweder zu einer längeren Arbeitslosigkeitsperiode oder zu Abwanderung führt. Es wäre nicht die erste Wirtschaftskrise, die einen Urbanisierungsschub nach sich ziehen würde. Neben den makroökonomischen Effekten von COVID-19, die in den kommenden Monaten im Vordergrund stehen werden und die mit jeder neu eintreffenden Prognose dramatischer erscheinen, sollte das Stethoskop also auch immer wieder auf den ländlichen Raum aufgesetzt werden.

Literatur und Daten

Dieser Beitrag ist auch als IHS Policy Brief (https://irihs.ihs.ac.at/view/ihs_series/ser=5Fpol.html) erschienen.