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Innovativ

Wie St. Marien zur digitalsten Gemeinde Österreichs und Europas wurde

Die Gemeinde St. Marien in Oberösterreich hat die vollständige Digitalisierung ihrer kommunalen Verwaltung umgesetzt. Dabei werden Anträge und Anbringen der Bürgerinnen und Bürger – unabhängig davon, ob sie mündlich, schriftlich oder digital eingehen – in eine bearbeitbare digitale Form gebracht und zu digitalen Auslösern der kommunalen Geschäftsprozesse, die im Sinne einer „papierlosen Verwaltung“ ebenfalls digital ablaufen.

Beinahe wären wir bei unserem Besuch in St. Marien in ein Begräbnis geplatzt. Vor der Kirche gleich neben dem Gemeindeamt sammelten sich die Trauergäste, als wir zu unserem Termin mit Amtsleiter Adi Schöngruber eintrudelten. Aber so traurig Begräbnisse sind, die Gemeinde hatte ein ungleich wichtigeres Begräbnis schon 2014/2015 hinter sich gebracht.

Als erste und vermutlich einzige Gemeinde Österreichs hat man in St. Marien die herkömmliche Verwaltung „zu Grabe getragen“, wenn man das so sagen kann, und die Gemeinde zur „digitalsten Gemeinde Österreichs“, wenn nicht Europas gemacht.

Wenn nämlich in Österreich von E-Government und Digitalisierung in der öffentlichen Verwaltung gesprochen wird, geht es großteils um die Optimierung des Inputs, also hauptsächlich um die Verfügbarkeit der Antragstellung für die Bürgerinnen und Bürger.

Leistungserstellung wird bei der Digitalisierung wenig beachtet

Auch der Output wird durch Portale, Apps und Ähnliches zeitgemäß gestaltet. Und alles funktioniert über Schnittstellen. Die eigentliche Leistungserstellung wird bei der Digitalisierung wenig beachtet. Die Gestaltung der kommunalen Prozesse ist aber wesentlich für Effizienz und Effektivität. 

Walter Lazelsberger
Bürgermeister Walter Lazelsberger: „Wir wollen bei Innovation ganz vorne mit dabei sein.“

Deshalb (und weil die Umstellung von Kameralistik auf Doppik sowie die damals schon immer stärker spürbare Personalnot in der Gemeinde eine Lösung quasi erzwungen haben) hat die Gemeinde St. Marien unter dem „Doppelgestirn“ Bürgermeister Walter Lazelsberger (er ist seit November 2021 im Amt, vorher zeichnete Helmut Tempel rund 20 Jahre verantwortlich) und Amtsleiter Adolf „Adi“ Schöngruber seit 2014 einen etwas anderen Weg bei der Digitalisierung beschritten.

Bürgermeister Lazelsberger meinte in seiner Präsentation in Berlin bei der „Smart Country Convention 2022“, dass seine Gemeinde „den Anspruch hat, bei Innovationen ganz vorne dabei zu sein - das aber im Rahmen einer menschlichen und bodenständigen Politik“.

Dieser Vision folgend hat die Gemeinde definiert, dass „in einer Umwelt mit verschiedensten Kommunikationskanälen den Kundinnen und Kunden freigestellt sein muss, wie Anträge bei der Verwaltung eingebracht werden können“, wie Adi Schöngruber ausführt. 

Gesamtes Gemeindeamt arbeitet digital

Egal ob mündlich, schriftlich oder digital, die Anbringen werden beim Einlangen harmonisiert – sprich in eine bearbeitbare digitale Form gebracht – und zu digitalen Auslösern der kommunalen Geschäftsprozesse.

Das gesamte Gemeindeamt ist so in seinem Tun gänzlich digital. Auch der Output erfolgt ausschließlich digital, und zwar in der Form, dass – egal ob RsA- oder RsB-Brief, normaler Postversand, LetterLink und dergleichen – ein Datenstrom mit der kommunalen Korrespondenz an die Post AG übertragen wird. Die Post entscheidet dann über die Art der Zustellung bis hin zum eventuell erforderlichen Druck für die konventionelle Briefbeförderung.

Die Vorteile der vollständigen Digitalisierung der kommunalen Verwaltung sind die ortsunabhängige Verfügbarkeit aller Informationen und Prozesse (was das Thema Homeoffice deutlich vereinfacht), der hohe Grad der Automatisierung und die Standardisierung der Abläufe. Trotzdem wird der Kontakt mit den Kundinnen und Kunden gepflegt und auf deren Wünsche eingegangen.

Besonders stolz ist Adi Schöngruber auf die Tatsache, dass die komplette Umstellung mit knapp zehn Vollzeitäquivalenten bewerkstelligt werden konnte – der Personalnot konnte damit eindrucksvoll begegnet werden.

Knappe Ressourcen in der Verwaltung mit Innovation ausgleichen

Die Personalnot war einer der Treiber hinter der Umstellung in St. Marien – das und die Kombination zwischen dem jungen Bürgermeister Walter Lazelsberger, der Innovationen offen gegenüberstand, und der Erfahrung des gelernten Betriebswirts Adolf Schöngruber. So haben sie den Umbruch – und das war es – in Angriff genommen und ihn umgesetzt. 

Geholfen habe die SAP-basierte Software GeOrg, was für „GemeindeOrganisator“ steht. Wie der GeOrg in St. Marien funktioniert und was er alles kann, hat uns Adi Schöngruber in einer zweistündigen Einführung erklärt (in Auszügen):

  • Die gesamte Post wird ausschließlich digital zur Bearbeitung an die Mitarbeiter verteilt. Dabei unterstützt das vollelektronische Posteingangsbuch, das nicht nur die Zuteilung der Poststücke dokumentiert, sondern auch die wesentlichen Verarbeitungsschritte zeigt.
  • Der elektronische Akt wird in knapp 85 Prozent der Geschäftsprozesse verwendet. Die restlichen Prozesse werden ebenfalls vollständig digital abgewickelt. Dabei werden die Funktionen einer Entscheidungsmanagement-Software und der öffentlichen Register genützt.
  • Die Kontoauszüge werden vollautomatisch von der Bank abgeholt und überwiegend automatisch vom System verbucht.
  • Eingangsrechnungen werden automatisch mit den eingegebenen Buchungen verbunden. Die erstellten Anordnungen werden von den Sachbearbeitern digital geprüft und unterfertigt.
  • Die Eingangsrechnungen und -gutschriften werden vom Bürgermeister digital angeordnet.
  • Im Fördercockpit werden die Gebarungen einzelner Projekte zusammengefasst und für die Überprüfung durch die Aufsichtsbehörden vorbereitet.
  • Auswertungen aus dem Finanz- und Organisationsbereich sind beinahe unbegrenzt möglich (alle Varianten, die SAP bietet).
  • Die Bauamtsverwaltung ist zu 100 Prozent auf den digitalen Bauakt umgestellt. Dabei wurden die bestehenden Akte migriert und können im Falle von neuen Verfahren verknüpft werden.
  • Der Versand von Bescheiden, Vorschreibungen, Briefen etc. erfolgt digital über das Versandmodul der Post AG. Poststücke müssen daher nicht mehr gefaltet und kuvertiert werden. Im Akt wird entschieden, wie das Poststück zugestellt wird. Für alle Zustellarten gibt es nur einen Versandkanal und zwar das Versandmodul. „Seit Mitte 2016 wurden von der Gemeindeverwaltung rund 90.000 Dokumente erstellt und verschickt“, ist Schöngruber besonders stolz.
  • Das Versandmodul ist das digitale Postausgangsbuch der Gemeinde und gibt einen detaillierten Überblick über den Output der Verwaltung.
  • Im Versandmodul werden zu jeder Sendung die Zustelldaten der Post AG angezeigt. Damit ist nachvollziehbar, ob eine Sendung postalisch oder an einen Zustellserver zugestellt wurde (klassische Sendungsverfolgung). Die Nachweise für RsA- und RsB-Sendungen werden von der Post AG über das Versandmodul vollautomatisch bei den Dokumenten abgelegt.
  • Geschäftsfallauslösende Dokumente werden automatisch archiviert und dementsprechend verlinkt.
  • Entstehende Dokumente werden automatisch vom System archiviert und zu den Geschäftsfällen verknüpft.
  • Durch die Bereitstellung von GeOrg im Steiermärkischen Rechenzentrum in Lannach ist höchstmöglicher Datenschutz und Ausfall­sicherheit gewährleistet.
  • Das Rechenzentrum ermöglicht zudem den ortsungebundenen und betriebssystemunabhängigen Access zu GeOrg. Beispielsweise können Anordnungen mittels Tablet und mobilem Breitband freigegeben werden. Auch der Zugriff auf die Informationen in den E-Akten ist möglich.
  • Zudem sind mit dem berechtigungsabhängigen Zugriff auf alle Gemeindedaten vollwertige Heimarbeitsplätze realisiert. Auch das war ein Grund dafür, dass die Umstellung mit knapp zehn Vollzeitäquivalenten machbar war. 

SAP und GeOrg haben die hohen Anforderungen erfüllt

„Unsere Geschäftsfälle werden umfassend digital abgewickelt, die Dokumentation erfolgt vollelektronisch und automatisch“, ist Adi Schöngruber begeistert. In den Akten, wie dem Bauakt und dem allgemeinen Akt, werden nicht nur Dokumente gesammelt und archiviert, sondern auch aus Vorlagen erstellt, abgeändert und fortgeführt, signiert und für den Versand vorbereitet. Akten werden mit anderen Vorgängen verknüpft und mit der Vertragsverwaltung und Buchhaltung verlinkt. 

Aktenstücke werden in Umlaufmappen zur Kenntnis gebracht, genehmigt und systematisch in Ordnerstrukturen abgelegt. Sachbearbeitern werden Aufgaben zugeordnet, die Arbeitsschritte werden dokumentiert, Notizen werden erfasst.

 Beteiligte, Einbringer, Sachverständige etc. werden hinzugefügt und verwaltet. Das Anlegen der Grundstammdaten ist dabei nicht erforderlich, weil auf die öffentlichen Register, wie Zentrales Melderegister, Unternehmensregister, Ergänzungsregister etc., zugegriffen wird. 

To-do-Listen werden erstellt, erweitert und gewartet und zeigen damit den Bearbeitungsstand.

Der Versand von Poststücken wird dokumentiert und sämtliche Arbeitsschritte im Akt werden vollautomatisch und unveränderbar protokolliert.

Der allgemeine Akt ist universal für Gebarungsfälle einsetzbar

Ergänzt wird dieses Tool durch bereits speziell vordefinierte Akte, wie Bauakt und Budgetakt, die genau auf die gedachten Aufgaben abgestimmt sind. Zudem gibt es Module, die abhängig von der Dokumentart spezielle Prozesse auslösen (Eingangsrechnungscockpit, Beschlussverarbeitung, Freigabecockpit …).

Weil alle erfassten Dokumente maschinenlesbar sind, kann mit dem Modul „Enterprise Search“ organisationsweit nach Volltext gesucht werden. Die Treffer werden nach Relevanz und mit zusätzlichen Filtern angezeigt, die es dem Nutzer ermöglichen, die Suche zu präzisieren.

Der digitale Workflow von St. Marien

Arbeitsplatz
Der digitale Arbeitsplatz: Die Workflows sind durch einen Link mit den jeweiligen Objekten, wie E-Akten, Umlaufmappen, Posteingangsstücken etc. verbunden. Mit einem Click springt man zu den Aufgaben ab. Die Workflows können vom Arbeitsplatz aus auch anderen Bediensteten oder Abteilungen weitergeleitet werden.
Posteingang
Das Posteingangsbuch zeigt die aktuellen Posteingangsstücke, die Empfänger u. v. m. Nach der Verarbeitung eines Posteingangsstücks wird auch die Verlinkung zum E-Akt, zu den Buchhaltungsdaten oder anderen Objekten angezeigt.
Schreibtisch
Am „Schreibtisch“ werden alle E-Akten bereitgestellt und u. a. auch Termine aus den To-do-Listen angezeigt. Die Termine und Verläufe sind ebenfalls mit den jeweiligen Akten verknüpft.
Sendungsachweis
Der Sendungsnachweis – wie bei Amazon kann die Gemeinde nachverfolgen, wo die Sendung oder der Brief gerade ist. 

Links optimieren die Abläufe

Alle Elemente in den E-Akten, die Verknüpfungen zu den Registern (Grundbuch, UR, ZMR, ER, FB, …), die Buchungen im Rechnungswesen, die Daten im Posteingangsbuch und im Versandmodul usw., also alle relevanten Daten im System, sind mit Links versehen und damit über alle Bereiche verknüpft.

Ruft man beispielsweise eine Person bei den Geschäftspartnerdaten auf, kann mit einem Click festgestellt werden, in welchen E-Akten die Person als Beteiligter geführt wird. Von dort kann dann auch auf den betreffenden Akt abgesprungen werden. In den Akten können auch Grundstücke oder Adressen verknüpft werden. Von diesen Objekten aus lassen sich etwa die Eigentümer abfragen oder es kann im integrierten GIS die geografische Lage angezeigt werden.

In einem nächsten Schritt sollen ausgewählte Informationen, wie Verfahrensstände und Kontodaten, den Bürgerinnen und Bürgern direkt im System bereitgestellt werden. Der Zugang erfolgt mittels Bürgerkarte über die Gemeinde-Homepage. 

Schöngrubers Zukunftsvision

Adolf Schöngruber
Besonders stolz ist Adi Schöngruber auf die Tatsache, dass die komplette Umstellung mit knapp zehn Vollzeitäquivalenten bewerkstelligt werden konnte – der Personalnot konnte damit eindrucksvoll begegnet werden.

„Die Verwaltung könnte“ – und sollte das auch, wie Adi Schön­gruber überzeugt ist – „der Bürgerin und dem Bürger das Leben erleichtern.“

Ein Beispiel: Wenn der Pass abläuft, könnte die Verwaltung automatisiert den Bürger erinnern: ‚Hallo, dein Pass läuft ab‘, und ihm gleich ein fertig ausgefülltes Formular zustellen. Der zeichnet mit seiner ID-Austria-Card gegen, schickt ein Foto und fertig. Gerade für so was muss niemand mehr ein Formular ausfüllten, die Daten jedes Bürgers liegen ja im ZMR auf und GeOrg hat Zugriff darauf.“ 
Dieser Zukunftsvision  schließt sich der Autor sehr gerne an!