Bürgerpartizipation
Land und Stadt zusammendenken
Kommunen investieren jedes Jahr viele Milliarden Euro. Ein Großteil davon fließt in räumliche Aufgaben, in Konzepte, Planungen oder die Errichtung von Gebäuden. Kommunen sind mit die größten Bauherren im Land und gestalten wesentlich den Lebensraum der Menschen.
Das Ziel von Baumaßnahmen ist es in der Regel, bestimmte Aufgabenstellungen zu erfüllen. Baumaschinen allein bringen aber noch kein Leben in die Quartiere. Gefragt sind daher Projekte, die mit dem Baubudget auch einen maximalen Effekt auf die Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger erzielen. Bezieht man diese von Anfang an in den Entstehungsprozess mit ein, ist der Weg mit viel Entwicklungspotenzial und positiver Energie für das eigenen Quartier, den eigenen Ort „gepflastert“.
Beteiligung als Schlüssel gelebter Baukultur
Mehr Beteiligung der Bürgerschaft gerade bei komplexen räumlichen Fragestellungen und Bauaufgaben ist heute notwendiger denn je. Baukultur ist viel mehr als nur Bauen. Baukultur besteht nicht nur aus fertiggestellten Bauwerken, sondern aus einer Vielzahl von Faktoren, die unseren Lebensraum in seiner Qualität beeinflussen können. Baukultur umfasst soziale, ökologische und gestalterische Fragestellungen, von der Lebensqualität eines Ortes bis zur Bodenpolitik oder der Organisation der Mobilität.
Vor allem Bauen auf Quartiersebene bietet die Chance auf einen intensiven Austausch mit den Akteuren vor Ort, mit den unmittelbaren Nutzerinnen und Nutzern. Dabei spielt das Ehrenamt eine große Rolle: Manche Projekte wären ohne den Einsatz engagierter Bürger nie begonnen worden oder nicht umsetzbar gewesen. Die Identifikation mit dem eigenen Ort ist in der Regel höher und bauliche Veränderungen werden gerade in kleinen Gemeinden sehr viel stärker wahrgenommen als im urbanen Kontext und sind daher sehr emotional besetzt.
Kommunen profitieren vom Mobilisierungspotenzial, das Bauaufgaben mit sich bringen. Prozesshaftes Arbeiten unter Beteiligung der Bürger führt vielfach auch zu deutlich besseren Lösungsansätzen. Sie kennen ihre Gemeinde oder Stadt am besten und haben vielfach sehr gute und zukunftsweisende Ideen, die eine wesentliche Basis für nachhaltige Lösungen und breite Akzeptanz vor Ort bilden.
Im Zeitalter der Politikverdrossenheit sind Bauaufgaben zudem ein überaus geeigneter Weg, die Bürgerschaft „hinter dem Ofen“ hervorzuholen. Denn was eignet sich besser, um Menschen an Entscheidungen und Entwicklungen in ihrem unmittelbaren Umfeld mitwirken zu lassen, als ein Bauprojekt? Bürgernähe ist ein angenehmer Nebeneffekt.
Beteiligung in veränderter Gesellschaft
Oftmals ist bei Gemeinden und Städten jedoch eine gewisse Grundangst vor Beteiligungsprozessen zu spüren, die vorwiegend durch negative Erfahrungen entstanden ist: Es ist aufwendig und langwierig, mit der Bürgerschaft zu arbeiten.
Der Prozess zieht sich wie ein Kaugummi und es kommt nicht viel Konkretes heraus, außer Unmengen an Papier für die Schublade oder Listen unerfüllbarer Wünsche. Es melden sich immer die gleichen zu Wort und nutzen die Beteiligung als Plattform für die eigenen Anliegen. So die Erfahrungen und Vorbehalte, die sehr ernst zu nehmen sind.
Dazu kommen gesellschaftliche Veränderungen, die Auswirkungen auf die Beteiligungskultur haben. Die Alltagswelt ist vielfältiger geworden, fordert Flexibilität und mehr Mobilsein. Informationswege und Kommunikationsverhalten verändern die Gesellschaft. Beteiligung in veränderter Gesellschaft hat daher einige wichtige Rahmenbedingungen im Blick zu behalten:
- Zeit und Energie: Gerade Menschen, die prinzipiell motiviert sind, sich einzubringen, sind im Berufs- und im Privatleben sehr aktiv und haben wenig Zeit und Energie. Wesentlich sind der wertschätzende Blick für die reale Situation der Beteiligten und die richtigen Angebote - Beteiligung darf und soll Freude machen!
- Identifikation: Wenn sich Menschen in ihrem Ort nicht zugehörig fühlen, weil sie erst vor Kurzem zugezogen sind oder Vereine und Ortsleben von „Einheimischen“ dominiert werden, fühlen sie sich oft nicht angesprochen. Die Aktivierung dieser Personen braucht besonderes Augenmerk.
- Gemeinsinn: Der Ruf nach mehr Beteiligung geht oft einher mit einer fordernden Haltung, die nur das eigene Partikularinteresse im Blick hat. Es braucht aber eine Haltung im Sinne von „Es geht um UNSEREN Ort und deswegen denken wir gemeinsam darüber nach“. Der Prozess kann größere Zusammenhänge herstellen und den Blick weiten.
- Kooperation und Vertrauen: Der Alltag ist schnelllebig, vermeintlich einfache Lösungen sind attraktiv. Um langfristig tragfähige Lösungen zu entwickeln, braucht es Dranbleiben und Geduld. In einer Atmosphäre, die vom Gemeinschaftsgedanken getragen ist, entsteht Vertrauen und die Kooperationsbereitschaft wächst.
- Lust und Freude: Durch eine von Kooperation und Vertrauen, Lust und Freude geprägte Beteiligungskultur lässt sich das Potenzial derer heben, die brennen: die Anpackenden, die dort, wo sie als Motoren agieren, Begeisterung wecken, andere mitreißen und so durch ihre Sogwirkung Zukunft gestalten.
Wie Beteiligung gelingt
Der Ort sind alle. Nur ein Miteinander von Politik und Verwaltung, Bürgerschaft, Unternehmen, Vereinen, Verbänden, Initiativen und Grundstückseigentümern ist Garant für Zukunftsfähigkeit. Gelungene Beteiligung ist Motor für gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Die wichtigste Voraussetzung dabei ist, dass die Einbindung der Bürgerinnen und Bürger gut durchdacht und richtig gemacht werden muss. Sie braucht neben ausreichend Zeit, Raum und finanziellen Mitteln vor allem die richtige Haltung sowie Engagement und Offenheit.
Der richtige Zeitpunkt eines Beteiligungsprozesses ist genauso wichtig wie Klarheit in den Regeln und Rollen, Transparenz bei Gestaltungsmöglichkeiten und Entscheidungskompetenzen. Es braucht Klarheit in der Sache, in Thema, Zweck und Ziel. Passende, pfiffige Methoden müssen richtig eingesetzt werden und es muss die Möglichkeit geben, alle Interessierten einzubinden.
Ein gelungener Beteiligungsprozess muss sorgfältig vorbereitet sein und auch Raum für Randgruppen, Konfliktthemen und Wut bieten. Und bei all dem sollte er mit genügend Witz und Humor gewürzt sein, motivieren, Spaß machen und den „Hund hinter dem Ofen“ hervorlocken.
Ein partizipativer Prozess muss ein Stück weit zum spannenden Erlebnis werden. Da kann ein gemeinsames Suppenessen ganz niedrigschwellig viele Knoten lösen und zum gemeinsamen Ideen-Spinnen und Zukunft-Entwickeln führen. Konkrete Lösungen lassen sich am besten in einem kompakten Format erzielen. An direkt hintereinander folgenden Tagen vor Ort wachsen die Menschen mehr und mehr in das Projekt hinein, Ideen werden verdichtet und unmittelbar auf Herz und Nieren geprüft.
Es muss sorgfältig, rechtzeitig und auffällig aktiviert werden. Denn nur wer von dem Prozess weiß, hat auch die Möglichkeit, sich zu beteiligen. Die Aktivierungswerkzeuge reichen von Interventionen im öffentlichen Raum bis hin zur Aufmerksamkeitserzeugung in der medialen und digitalen Welt.
Neue Kompetenzen für die Verantwortlichen
Ein solches Format bewegt sich zwischen dem großen Ganzen und den Details, zwischen Visionen und Pragmatismus. Für den klassischen Planungsprozess und die beteiligten Verantwortlichen aus Politik, Verwaltung und Planung bedeutet es eine große Herausforderung. Es braucht für das gleichzeitige Zuhören, Verknüpfen, Entwickeln, Auf-den-Punkt-Bringen und Vermitteln der Ergebnisse ein gut geschultes, mehrköpfiges Team mit planerischer und kommunikativer Kompetenz. Und viel Zeit und Hirnschmalz in der Vorbereitung.
Die Aufgaben erweitern sich um Tätigkeiten wie Aktivieren, Kommunizieren, Moderieren, Konfliktmanagement, Ideensammeln und Transformieren. Die Verantwortlichen müssen sich um eine positive Atmosphäre genauso kümmern wie um den schlüssigen Prozessablauf, den klaren Rahmen und die inhaltliche Punktlandung. Neben Kenntnissen zur prozesshaften Arbeit und Improvisationstalent werden Fingerspitzengefühl und Wertschätzung von immer zentralerer Bedeutung. Zeitgemäße Verfahren erfordern einen sensiblen und professionellen Umgang mit Methoden und Akteuren.
Die Arbeit mit Laien verlangt eine gut verständliche Sprache und greifbare Vermittlung. Und eine ordentliche Portion Humor ist immer sehr förderlich. Es ist nicht mehr nur ein Projekt – es ist ein Prozess.
Beteiligung ist Arbeit – Aufwand, der sich aber sowohl zeitlich als auch finanziell lohnt. Richtig und professionell gemacht, ist sie gemeinschaftsstiftend und ein echter Gewinn für Stadt und Dorf.
Eine gemeinsam getragene Vorstellung entsteht
In moderierten Ideenstammtischen wurden zunächst alle Anregungen und Ansätze gesammelt: Was braucht es in der Ortsmitte? Welche Wohnformen sind gefragt? Wie soll Leben und Wohnen auf dem Grundstück ausschauen? Ein ganztägig geöffnetes Ideenbüro generierte weitere circa 100 Ideen aus den Kategorien Wohnen, Baukultur, Freiraum, Infrastruktur, Jugend, Platz für alle Generationen oder Mobilität. Zwei Grundschulen und die Mittelschule brachten sich mit Bildern, Modellen und Vorträgen ein.
Alle diese Ideen kamen auf den Prüfstand: Was ist verwirklichbar auf dem Grundstück? Wie kann es aussehen und wie passt das alles zusammen? Transparent und einvernehmlich wurde festgestellt, dass nicht alle eingegangenen Ideen auf dem Grundstück untergebracht werden können. Als Nebenprodukt des Prozesses nimmt die Gemeinde jedoch eine ausführliche Ideensammlung zur Umsetzung an geeigneter anderer Stelle mit.
Entstanden ist ein klares, gemeinsames Bild vom Leben und Wohnen in der Ortsmitte: Älter werdende Menschen wohnen dort genauso wie junge Singles und Familien in bezahlbaren Wohnungen unterschiedlicher Größe. Gemeinschaftsräume auch für die Ortsbevölkerung ermöglichen Begegnung. Viel Grün und Wasser in allen Variationen bereichern das Ortsbild, sind für alle nutzbar und sorgen für eine angenehme Wohnumgebung. Die aufgelockerte und nachhaltige Bauweise hat dörflichen Charakter.
Innovativer Wohnungsbau mit dörflichem Charakter
Wie lassen sich diese Vorstellungen in tatsächlich gebauten Raum übersetzen? Das war Aufgabe der Planungswerkstatt. Ein eindrucksvolles Modell der näheren Umgebung ermöglichte es den Laien-Architektinnen und -Architekten, sich in die räumlichen Gegebenheiten hineinzudenken. Es wurde gebaut und gebastelt und die Vorstellungen aus der Ideenwerkstatt wurden Schritt für Schritt in Modelle umgesetzt.
Die Beteiligten bekamen ein Gefühl für räumliche Zusammenhänge, die Wirkung von Baukörpern und den Umgang mit Rahmenbedingungen. Vier unterschiedliche Modelle entstanden, denen zentrale Elemente aber gemeinsam waren: lebendiger Geschoßwohnungsbau im Grünen ganz ohne Einfamilienhäuser.
Die Ergebnisse dieser zweieinhalb Tage Arbeit der Bürgerschaft waren die Grundlage für den städtebaulichen Entwurf. Das beauftragte Architekturbüro entwickelte ein dichtes und doch aufgelockertes Quartier zum gemeinsamen Leben und Wohnen. Alle, Öffentlichkeit und Politik, waren sehr zufrieden.
Die Baugruppenwerkstatt
Die Wohnungstypen, -größen und -ausrichtungen entwickelten die Mitglieder der Baugruppe gemeinsam. Ein auf Architektur und Partizipation spezialisiertes Büro begleitete die Baugruppe, aber auch deren einzelne Mitglieder bei Planung und Entscheidungsfindung: vom Bebauungsplan über das Baumaterial bis hin zu Böden oder Türklinken.
Mithilfe von Modellen, großen Luftbildern, Raumaufstellern und haptischen Materialien konnten sie sich die Konsequenzen ihrer Entscheidungen vor Augen führen. Spezifische Moderationsformate und viele Einzelgespräche erleichterten die Konsensfindung bei Themen wie Gemeinschaftsnutzung, Baukörpersituierung, individuellen Wohnraumbedürfnissen oder bei der Wahl der Baustoffe und ihrer Verarbeitung.
Intensiv diskutiert wurden auch Blickbeziehungen und ihre Auswirkungen auf Privatheit und Gemeinschaftsflächen. Durch das Versetzen der Baukörper entstanden kleine Höfe, die sowohl den Blick auf den Dorfplatz als auch in die reizvolle, das Wohnprojekt umgebende Landschaft freigeben.
Neben sozialen Aspekten standen auch bauökologische Kriterien im Fokus der Baugruppe. Nach Abwägung mehrerer Alternativen entschied sie sich für eine nachhaltige Holzleichtbauweise mit Zellulosedämmung und sichtbaren Massivholzdecken. Lediglich das Gemeinschaftsgebäude am Dorfplatz wurde aufgrund der Hanglage als Stahlbetonbau ausgeführt.
Ein Fazit: offen und konstruktiv zu bedarfsgerechten und innovativen Ergebnissen
In offener, konstruktiver Atmosphäre hat sich die Bevölkerung jeweils breit eingebracht. Vorstellungen und Ideen waren realistisch und bodenständig. Wünsche und Bedürfnisse kamen klar zur Sprache. Offen und transparent wurde besprochen, welche Ideen auf den konkreten Grundstücken aufgegriffen werden können und für welche es andere Möglichkeiten im Ort zu suchen gilt.
Voraussetzung für das Gelingen waren Offenheit und Ernsthaftigkeit seitens der Bevölkerung, aber auch von Politik und Projektentwicklern. Gleichzeitig wurde viel Wert auf die richtige Fragestellung gelegt, um von vorneherein Klarheit zu schaffen und Frustration auf beiden Seiten zu vermeiden: Was sind fixe Rahmenbedingungen und Vorgaben und wo ist echter Spielraum und Ergebnisoffenheit?
Die Menschen ernsthaft zu fragen, was sie sich für ihren Ort vorstellen, drückt Wertschätzung aus. Eigene Vorstellungen zu entwerfen verbindet die Menschen mit ihrem Ort und der konkreten Planung. Selber am Modell zu bauen macht Spaß und vermittelt ein vertieftes Verständnis für Arbeiten im Raum, seine Wirkungen und Zwänge.
Das Ergebnis waren umsetzbare, bedarfsgerechte Entwürfe und die Erkenntnis, dass die Menschen offen sind für starke, durchmischte Quartiere mit neuen Wohnformen und, sofern sie einen lockeren, begrünten und maßstäblichen Charakter haben.