Kenan Güngör
Kenan Güngör: „Ganz wichtig ist, die Freiwilligen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagiert haben, einzubinden.“
© Magdalena Possert

„Im ländlichen Raum ist man als Fremder viel länger fremd“

Wie groß ist die Gefahr, dass es in meiner Gemeinde einen Terroranschlag geben kann? Diese Frage beschäftigt nach dem Attentat in Wie viele Verantwortliche in Österreichs Gemeinden. Der kurdischstämmige Soziologe Kenan Güngör versucht Antworten zu geben, wie Radikalisierung verläuft und was Kommunen dagegen tun können.

Größere Gemeinschaften von Menschen mit Migrationshintergrund gibt es eher in Städten als in kleineren Gemeinden. Ist in einem Dorf die Gefahr, dass sich jemand in einem Dorf radikalisiert geringer?

Kenan Güngör: Quantitativ natürlich ja, alleine deswegen, weil, es viele kleine Gemeinden gibt, in denen es keine oder kaum Menschen mit Migrationshintergrund gibt.

Radikalisierung passiert über das Internet und in den sozialen Medien, es aber braucht auch ein persönliches Netzwerk. Das können Freundeskreise, Peergroups oder Untergrundmoscheen sein. Solche sozialen Netzwerke gibt es aber in den Dörfern fast gar nicht.

Zu beachten ist aber, dass Menschen, die sich verunsichert fühlen, die keinen Anschluss finden und keinen Sinn finden, anfällig sind – und zwar sowohl für Depressionen und damit einhergehende Selbstgefährdung als auch für Kriminalität. 

Im Zuge der Flüchtlingswelle seit 2015 wurden Geflüchtete in vielen österreichischen Gemeinden angesiedelt. Wie wurden diese in die Gemeinschaft integriert?

Es war tatsächlich so, dass viele der geflüchteten Menschen aufgrund des regionalen Verteilungsschlüssels erstmals nicht alle in Wien oder in anderen großen Städten sesshaft wurden.

Studien zeigen, dass je besser die Menschen in ihre Umgebung eingebunden werden, desto eher bauen sie Bindungen auf, es erwächst sowas wie Vertrautheit mit den Mitmenschen. Und das ist wichtig für soziale und emotionale Integration. Denn gerade positive Beziehungen helfen, den Kulturschock, den geflüchtete Menschen durchleben, besser zu verarbeiten. Vieles was sie nicht kannten, oder als falsch bzw. verwerflich sahen, kann somit besser hinterfragt und aufgebrochen werden. Das sind zum Teil mühsame langwierige Lernprozesse, die Menschen in ihren Grundfesten erschüttern können. Wenn das nicht gelingt, gibt es die Gefahr, dass ein Teil von ihnen sich in die eigene Gruppe zurückzieht und wohlmöglich der Aufnahmegesellschaft gegenüber distanziert bis ablehnend gegenübersteht. Diskriminierungen, Ablehnungserfahrungen etc. unterstützen solche unheilvollen Spiralen. Hier sind Helfer, vielfältige Freundes- und Bekanntenkreise, oder Nachbarschaften wichtige Präventionsfaktoren, damit Flüchtlinge nicht vereinsamen und gemeinsame Lernerfahrungen gemacht werden können.

Natürlich kennt man einander in kleinen Gemeinden besser als in großen Städten. Ist das ein Vorteil?

Im ländlichen Raum ist man als Fremder viel länger fremd. Wenn man aber einmal aufgenommen wird, dann ist man sozial viel besser verbindlicher integriert als in einer Stadt.

Gerade junge Flüchtlinge finden in Städten schneller einen Freundeskreis, in dem sie sich akzeptiert fühlen, als in kleinen Gemeinden. Es sei denn, sie finden Menschen, die ihnen bei der Etablierung in eine für sie fremden Welt helfen. Das war etwas Besonderes in der Flüchtlingskrise, dass es – gerade auch im ländlichen Bereich – so viele aktive Helfer gab, die den Flüchtlingen geholfen haben, sich zurecht zu finden.

Kenan Güngör
Kenan Güngör: „Es ist Aufgabe der Kommune, ein Auge darauf zu haben, dass gerade junge Menschen, Kontakte aufbauen können und integriert werden.“

Der Nachteil des ländlichen Raumes ist also, dass es schwieriger ist, Anschluss zu finden. Dies auch deswegen, weil viele Kommunen mittlerweile zu Schlaf-Orten geworden sind, in denen, zumindest tagsüber, kaum Menschen auf der Straße zu sehen sind. Für jemanden, der neu hinzukommt, ist es ganz schwierig, Anschluss zu finden. Hier wäre es Aufgabe der Kommune, ein Auge darauf zu haben, dass gerade junge Menschen, Kontakte aufbauen können und integriert werden.

Es lässt sich feststellen, dass sich Kinder mit Migrationsbackround, die im ländlichen Raum aufwachsen, viel stärker mit ihrer lokalen Umgebung verbunden fühlen als Kinder, die in der Stadt aufwachsen. 

Wenn selbst Eltern und die Familie oft zu spät erkennen, dass sich ein Jugendlicher radikalisiert, wie kann das die Gesellschaft bemerken?

Gewalttätige Radikalisierung findet ja glücklicherweise sehr, sehr selten statt. Das Problem ist, dass von diesen wenigen Menschen große Gefahr ausgeht.

Wichtig ist, dass in Schulen oder auch in der Nachbarschaft Beziehungen geschaffen werden. Dann merkt man, wenn sich jemand entfremdet.

Es kommt vor, dass Familien in der Anfangsphase nicht mitbekommen, dass etwas nicht in Ordnung ist, aber Schulfreunde oder Arbeitskollegen es registrieren, wenn ein junger Mensch entgleitet. Das muss gar nicht in Radikalisierung ausarten, sondern oft geht es um psychische Probleme, um Vereinsamung und Perspektivlosigkeit. Daher ist dieser lebensweltliche Kontakt so wichtig. 

Welche Maßnahmen kann eine Gemeinde setzen, um Radikalisierung zu verhindern?

Ganz wichtig ist, die Freiwilligen, die sich in der Flüchtlingshilfe engagiert haben, einzubinden. Diese Ehrenamtlichen haben zum Teil noch immer noch sehr intensive Kontakte zu den Flüchtlingen, die sie betreut haben, und wissen oft recht bald, wenn etwas nicht stimmt. Etwa, wenn es um Gewalt in der Familie gibt, aber eben auch, wenn sich jemand in Richtung eines religiösen Extremismus bewegt.

Aufgabe der Gemeinde wäre es, darauf zu schauen, dass die geflüchteten Menschen gut in die Gemeinde integriert werden. Dafür müssen die Netzwerke der Freiwilligen am Leben zu erhalten. Sie können helfen, eine gute Begegnungskultur entstehen zu lassen. Das gelingt in kleinen Gemeinden oft viel besser als in großen Städten, weil da die persönlichen Beziehungen meist noch intensiver sind. Auch die Kommunikationswege sind in den kleineren Kommunen kürzer: Wenn jemanden etwas auffällt, dann muss er das nicht bei zehn Ämtern melden, sondern kann unmittelbar mit dem Bürgermeister sprechen.

Besteht da nicht die Gefahr von Panikmache und Vernaderung?

Deshalb sollte das bloß nicht in Alarmismus ausarten. Nicht jeder, der sich religiös zurückzieht, ist eine potentielle Gefahr! Hier ist es wichtig in Kontakt zu bleiben und ein Gespür zu haben, wie sich jemand entwickelt.

Fatal wäre es, Menschen, die versuchen, sich zurechtzufinden, eher als Problem oder gar Gefährder zu sehen. Leider sehen sich manche Einheimische dazu berufen, als „Polizei“ aufzutreten. Wenn jemand eine solche Ablehnung spürt, dann steigert das nur die Entfremdung. Viel wichtiger ist es, im empathischen, aufmerksamen Dialog zu bleiben. Das kann in Problemfällen eine seismographische Funktion haben.

Zur Person

Kenan Güngör ist einer der profiliertesten Experten für Integrations- und Diversitätsfragen in Österreich und berät staatliche und nichtstaatliche Organisationen auf der Bundes-, Landes- und Gemeindeebene. Er leitete unter anderem zahlreiche Studien und integrationsbezogene Leitbildprozesse auf Länder- und Städteebene. Als strategischer Berater begleitete er unter anderem die Stadt Wien über mehrere Jahre in integrations- und diversitätsbezogenen Themen und war Gastprofessor an der Universität Wien. Darüber hinaus ist er Mitglied des unabhängigen Expertenrates der österreichischen Bundesregierung.