Galgenberg in Wildendürnbach
Die EU-Gesetzgebung muss so gestaltet werden, dass der Verwaltung und der Politik Spielräume bleiben.
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Gewinnt der ländliche Raum in der EU an Bedeutung?

Die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyenhat es in ihren Leitlinien angekündigt: Der ländliche Raum soll in der Wahrnehmung der Europäischen Kommission besser verankert werden.

Zwei Kommissarinnen (die kroatische Vizepräsidentin Dubravka Šuica und die portugiesische Kommissarin Elisa Ferreira) sind beauftragt, eine entsprechende Langzeitvision zu entwickeln. Šuica ist auch für die Bereiche Zukunft Europas, Demokratie und Demografie verantwortlich, Ferreira für Regionalpolitik und Strukturreformen. Eine interessante Mischung, deren Themenvielfalt auch die Langzeitstrategie beeinflussen wird.

In der Interessensvertretung muss man jetzt darauf hinarbeiten, dass der ländliche Raum in seiner Gesamtheit wahrgenommen wird und nicht wieder in der Schublade Landwirtschaft/Regionalpolitik landet. Förderungen sind notwendig (für die wirtschaftliche Entwicklung, den Erhalt ländlicher Strukturen, den Aufbau von Infrastruktur etc.). Allein aus dem ländlichen Entwicklungsfonds wird sich aber zum Beispiel die Breitbandkluft nicht schließen lassen.

Freiräume statt Förderungen

Der ländliche Raum muss auch in Brüssel viel stärker als Wirtschafts- und Innovationsraum verankert werden. Europaweit gibt es Beispiele erfolgreicher Nischen jenseits der Zentralräume. Die brauchen nicht unbedingt mehr Förderung, sondern mehr Freiraum.
Es muss daher auch erlaubt sein darüber nachzudenken, wie man die regionale Wirtschaft stärkt (bevorzugt?), um Arbeitsplätze vor Ort zu schaffen bzw. zu sichern. Dies ist europarechtlich durchaus ketzerisch, realpolitisch höchst an der Zeit.

Sieht man sich die Auseinandersetzung der europäischen Institutionen mit dem ländlichen Raum bis zur Gegenwart an, ist festzustellen, dass die gemeinsame Agrarpolitik die Wahrnehmung prägt. Während bei Wirtschaftspolitik, Digitalisierung oder Binnenmarkt automatisch an Städte und Metropolen gedacht wird, rangiert der ländliche Raum bei Diskussionen über die Kernkompetenzen der EU (mit Ausnahme der Landwirtschaft) oftmals unter ferner liefen. 

EU-Recht in der Praxis

In diesem Zusammenhang soll an das EuGH-Urteil zur Notifizierung von Flächenwidmungs- und Raumordnungsplänen erinnert werden.

Der Anlassfall für dieses Urteil, wo es um die Auslegung der EU-Dienstleistungsrichtlinie, also einer eher komplexen Materie geht, war der Bauleitplan einer niederländischen 12.000-Einwohner-Gemeinde. Die Gemeinde Appingedam beschränkte den Einzelhandel in einem neu gewidmeten Gewerbegebiet außerhalb des Zentrums auf Geschäfte mit besonderem Platzbedarf, das heißt Baumärkte, Einrichtungshäuser oder Fahrzeuganbieter. Dies wurde mit der im Allgemeininteresse liegenden Stärkung des „kleinen“ Einzelhandels im Ortskern begründet. Die Begründung der Gemeinde und somit auch die Widmung wurden vom EuGH als grundsätzlich rechtskonform anerkannt, die genaue Prüfung, ob sämtliche Ausnahmetatbestände erfüllt sind, wurde an ein niederländisches Gericht zurückübertragen.

Der EuGH stellte aber fest, dass örtliche Bauleitpläne den freien Dienstleistungsverkehr einschränken können, und zwar auch bei rein nationalen Sachverhalten ohne grenzüberschreitende Bedeutung.

Territoriale Beschränkungen dürfen nicht diskriminierend sein

Territoriale Beschränkungen, wie in den Niederlanden, sind nur zulässig, wenn sie nicht-diskriminierend, verhältnismäßig und im Allgemeininteresse sind. Doch auch eine derartige Begründung entbindet die Mitgliedstaaten nach aktueller Rechtslage nicht davon, neue, die Dienstleistungsfreiheit behindernde Verwaltungsvorschriften (also unter anderem Flächenwidmungspläne) bei der EU-Kommission zu melden.

Die Konsequenzen dieses Urteils sind also sehr weitreichend und zeigen, welch komplexe Fragen auch kleinere Gemeinden treffen.

(Anmerkung: Die sogenannte Notifizierungsrichtlinie, welche den oben dargestellten Sachverhalt im Detail regeln soll, befindet sich noch im Gesetzgebungsprozess. Gemeindebund und Städtebund setzen sich für eine Ausnahme der örtlichen Raumplanung ein; dieser Lösung ist auch die EU-Kommission nicht abgeneigt.) 

Verwaltung und Politik brauchen Spielräume

Die wohl größte Herausforderung bei der Gestaltung der europäischen Langzeitvision für den ländlichen Raum wird es sein, sektoren- und politikbereichsübergreifend zu denken. Anzuerkennen und zu verinnerlichen, dass dezentrale Verwaltungen, egal ob groß oder klein, mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Und EU-Gesetzgebung letztlich so zu gestalten, dass auch der öffentlichen Verwaltung bestimmte Spielräume bleiben und Politikgestaltung im örtlichen Allgemeininteresse möglich bleibt. 

Bedenkt man ferner, dass Ursula von der Leyen ihren Kommissaren den Auftrag erteilt hat, die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen umzusetzen, kann eine echte Wende wohl nur mithilfe eines umfassenden Paradigmenwechsels vollzogen werden.
Ob dies gelingt, bleibt abzuwarten.

Ursula von der Leyen
Noch hat Ursula von der Leyen Probleme mit der Zusammensetzung ihrer Kommission (gleich drei vorgeschlagene Mitglieder wurden vom Parlament nicht bestätigt).  Dennoch ist ihr Ansinnen, den „ländlichen Raum in der Wahrnehmung der Kommission zu stärken“, durchaus positiv zu vermerken.

Kommissare müssen sich ein Bild der Lebensrealitäten machen

Die neuen Kommissare müssen sich jedenfalls auch in Orten fernab der Hauptstädte ein Bild der Lebensrealitäten machen, und im EU-Parlament gibt es viele neue Abgeordnete, denen der ländliche Raum am Herzen liegt.

Doch auch unter Präsident Juncker wurde ein Aktionsplan für Smart Villages verabschiedet. Dieser sorgte kurz für Aufsehen und Interesse, verschwand letztlich aber aus der öffentlichen (und innerinstitutionellen) Wahrnehmung und wird nur noch von engagierten LEADER-Gruppen und Regionalmanagern am Leben erhalten.

Dieses Schicksal soll dem neuen Anlauf nicht blühen. Dafür wird sich auch der Gemeindebund stark machen.