Apostolos Tzitzikosta
Apostolos Tzitzikostas: „Ob der europäische Grüne Deal – den die Europäische Kommission vorschlagen hat, um Europa bis 2050 klimaneutral zu machen – ein Erfolg oder ein Fehlschlag wird, entscheidet sich in den Regionen und Gemeinden. Sie setzen 70 Prozent der Klimaschutzmaßnahmen und bis zu 90 Prozent der Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel um.“
© European Union/ Philippe Buisson

„Kürzen der Investitionen schafft Geografie der Unzufriedenheit“

Apostolos Tzitzikostas, Präsident des Europäischen Ausschusses der Regionen, warnt davor, dass die digitale Kluft die Erreichung der Energie- und Klimaziele behindert. Wenn EU-Investitionen, die diesen Trend auffangen könnten, verringert werden, besteht die Gefahr, dass sich die Menschen in Problemgebieten von den Institutionen und von Europa abwenden.

Der Kampf der europäischen Staats- und Regierungschefs um den nächsten EU‑Haushalt droht zu einer ernsten Gefahr für die Zukunft der Europäischen Union zu werden und sie ins Wanken zu bringen. Wenn die EU etwas aus einem Jahrzehnt der schlimmsten Krisen unserer Nachkriegsgeschichte gelernt hat und die vielen Bürger, die nicht mehr an das europäische Projekt glauben, wirklich wiedergewinnen will, dann müssen auch die dafür notwendigen Mittel aufgebracht werden. Europa braucht einen Haushalt für die Menschen, der ihnen Verbesserungen im Alltag bringt und ausreichend bemessen ist, dass er auch künftigen Herausforderungen standhält.

Europa muss zusammenstehen

In der Finanzkrise waren es die Kommunen, denen aufgrund der Sparpolitik am meisten abverlangt wurde und deren Bürger unter den Einschnitten bei den öffentlichen Diensten und Hilfen litten. Die Migrationskrise offenbarte die Grenzen der europäischen Solidarität und viele lokale Gemeinwesen wurden allein gelassen, als sie Europa am meisten brauchten. Dies verschlimmerte die Euroskepsis und führte zum bedauerlichen Austritt des drittgrößten Landes aus der Union. Europa muss seine Lektion lernen, es muss zusammenstehen und jetzt Antworten auf die Krise der Institutionen und der Demokratie finden, die es gegenwärtig durchlebt. 

Der Brexit war nicht der Weckruf, den viele erwartet hatten. Die Enttäuschung und Zerstrittenheit im Zusammenhang mit den Verhandlungen über den EU-Haushalt haben einmal mehr gezeigt, dass Europa mit seiner zweidimensionalen Politik – die weitgehend von den EU-Organen und den einzelstaatlichen Regierungen bestimmt wird – nicht auf die wirklichen Bedürfnisse der Menschen eingeht. Viel zu viele Menschen fühlen sich heute missverstanden und übergangen.

Steuergelder müssen in lokale Gemeinschaften investiert werden

Wenn die EU etwas aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und wieder vorankommen will, muss sie jetzt unter Beweis stellen, dass sie zuhören und sich ändern kann.

Ein starker EU-Haushalt muss auf Investitionen ausgerichtet sein, die dazu beitragen, das Leben der Menschen in den Städten und Regionen zu verbessern. Es gilt, Politikfelder zu stützen und zu schützen, die nicht nur Europa den Bürgern, sondern auch die Bürger Europa näherbringen.

In den Verhandlungen darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in den meisten Mitgliedstaaten rund 50 Prozent der gesamten öffentlichen Investitionen aus EU-Mitteln für Regionalförderung (Kohäsionspolitik), Landwirtschaft und ländliche Entwicklung finanziert werden. Dies ist nicht nur ein Zeichen aktiver Solidarität seitens der EU, sondern auch ein Impuls für das Wirtschaftswachstum, die Schaffung von Arbeitsplätzen und den Binnenmarkt, der uns allen zugutekommt. 

Die Steuergelder müssen auch weiterhin in lokale Gemeinschaften investiert werden, da dies sowohl den Nettozahlern als auch den Nettoempfängern zugutekommt. Eine Kürzung der EU-Mittel für Krankenhäuser und Schulen, den Nahverkehr, den Umweltschutz, Universitäten und Kleinunternehmen wäre eine Enttäuschung für die Menschen und ein Geschenk an den Populismus.

Erfolg des „Grünen Deals“ entscheidet sich in den Regionen und Gemeinden

Es geht nicht darum, „alte EU-Politiken“ zu verteidigen. Im Gegenteil: Die Bürgerinnen und Bürger wollen, dass Europa – und die nationalen Regierungen – die tiefgreifenden Veränderungen der jetzigen grünen, digitalen und demografischen Revolution besser begreifen und darauf reagieren.

Die EU-Kohäsionspolitik und die EU-Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums sind darauf ausgerichtet, diese Herausforderungen bei den Menschen vor Ort anzugehen.

Ob der europäische Grüne Deal – den die Europäische Kommission vorschlagen hat, um Europa bis 2050 klimaneutral zu machen – ein Erfolg oder ein Fehlschlag wird, entscheidet sich in den Regionen und Gemeinden. Sie setzen 70 Prozent der Klimaschutzmaßnahmen und bis zu 90 Prozent der Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel um. Die EU-Strategie muss sich auf ihre Erfahrungen stützen und auf ihre Bedürfnisse eingehen.

Digitale Kluft behindert Energie- und Klimaziele

Die digitale Kluft in unseren Regionen verschärft auch die Ungleichheiten und den Niedergang des ländlichen Raums und behindert unsere Energie- und Klimaziele. Wenn wir diese Kluft überbrücken und gemeinsame Innovationen schaffen wollen, indem wir Investitionen in Start-ups und in intelligente Technologien lenken, brauchen wir einen europäischen Ansatz mit einer entsprechenden europäischen Finanzierung.

In über 40 Prozent der europäischen Regionen nimmt die Bevölkerung ab und Hunderttausende Klein- und Mittelstädte sind von Bevölkerungsschwund und Niedergang bedroht. Wenn wir EU-Investitionen, die diesen Trend auffangen könnten, verringern, laufen wir Gefahr, eine „Geografie der Unzufriedenheit“ zu zementieren, in der sich die Menschen in Problemgebieten von den Institutionen und von Europa abwenden. 

Der Beschluss über den nächsten EU-Haushalt wird zeigen, welchen Weg wir einschlagen. Noch können wir eine Schrumpfung, Schwächung und Spaltung Europas verhindern. Auf die Stimme der Regionen und Städte zu achten, wäre ein guter Anfang.

Der Europäische Ausschuss der Regionen

Der Europäische Ausschuss der Regionen (AdR) ist eine beratende Einrichtung der EU, die sich aus lokal und regional gewählten Vertretern aller 27 Mitgliedsländer zusammensetzt. Diese können über den Ausschuss Stellungnahmen zu EU-Rechtsvorschriften abgeben, die sich direkt auf ihre Regionen und Städte auswirken.

Die Ausschussmitglieder sind gewählte Vertreter lokaler oder regionaler Behörden. Jedes Land benennt die Mitglieder seiner Wahl, die daraufhin vom Rat der EU für eine Amtszeit von fünf Jahren ernannt werden. Eine Verlängerung des Mandats ist möglich. Die Anzahl der Mitglieder pro Land richtet sich nach der Bevölkerungszahl der Länder.

Die Mitglieder eines Landes bilden die nationale Delegation, die die politische, geografische, regionale und lokale Realität ihres Landes widerspiegelt. 

Jedes Mitglied kann sich außerdem einer der politischen Fraktionen im Ausschuss anschließen, sofern es dies wünscht. Derzeit gibt es fünf politische Fraktionen, die die verschiedensten politischen Zugehörigkeiten repräsentieren: die Europäische Volkspartei (EVP), die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE), die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE), die Europäische Allianzen (EA) und die Europäischen Konservativen und Reformistenen (ECR). Die Mitglieder können auf Wunsch auch davon absehen, sich einer politischen Fraktion anzuschließen (fraktionslos).

Österreich ist mit 24 Mitgliedern bzw. Stellvertreterinnnen und Stellvertretern im Ausschuss der Regionen vertreten.

Den Präsidenten oder die Präsidentin wählt der Ausschuss aus den eigenen Reihen für die Dauer von zweieinhalb Jahren.